Der Niedermarkt um 1900


Eine Zigeunerin als Beschützerin Neusalzas vor Feuersbrunst
Autor: Lutz Mohr, Greifswald, ehemaliger Neusalza-Spremberger

Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kursierte in dem Städtchen Neusalza eine sagenhafte Überlieferung, nach der in der kleinen Stadt niemals größeres Feuer ausbrechen werde. Das erklärte man sich so:
An einem kalten Sonntag im November des Jahres 1677, sieben Jahre nach der Gründung Neusalzas, kam in den Abendstunden eine alte und ärmlich gekleidete Zigeunerin aus dem Böhmischen über den Lindenberg nach Neusalza. Das Städtchen besaß keine schützenden Mauern und Tore wie andere Städte. Die junge Ansiedlung war sozusagen als „Stadt im Dorf Spremberg“ entstanden, in die jedermann jederzeit über dörfliche Fluren ungehindert gelangen konnte. Es war bereits stockdunkel. Die Bürger saßen gemütlich daheim, nur der Nachtwächter drehte mit seiner Laterne die Runde. Er schien die Zigeunerin nicht zu bemerken. Die alte Frau war von der langen Wanderung durchfroren und erschöpft. Sie verspürte Hunger und Durst und hoffte ein Obdach für die Nacht zu finden. Nach längerem Umherirren in der Dunkelheit, erblickte sie im Fenster eines kleinen Eckhauses am Niedermarkt ein Licht. Sie klopfte an das schwere Holztor. Auf die Frage des Hausherrn, wer da sei, meldete sie sich und nannte ihr Begehr. Nun wurde das Tor geöffnet, und ein Mann und eine Frau mittleren Alters, einfache und bescheidene Leute, hießen sie willkommen und geleiteten sie zum wärmenden Herd in die Küche. Die Hausfrau sagte zu der alten Zigeunerin: „Mütterchen, wärme dich auf und ruhe aus, iss und trink etwas, wir haben aber nicht viel zu bieten. Du kannst auch gern die Nacht bei uns bleiben“. Die fremde alte Frau bedankte sich, aß ein wenig und schlief sogleich auf einer Pritsche ein, die die Gastgeber für sie bereitgestellt hatten. Danach löschte das Ehepaar die Kerzen und begab sich ebenfalls zur Nachtruhe. Die Turmuhr der nahen Spremberger Kirche schlug bereits die elfte Stunde. Am nächsten Morgen standen die Eheleute früh auf, um ihr Tagewerk zu beginnen. Auch die Zigeunerin wachte auf, kleidete sich an und nahm etwas Morgenkost zu sich. Nun rüstete sie zum Aufbruch, und die Eheleute verabschiedeten sich mit den Worten: „Möge Gott mit dir sein!“. Als die alte Zigeunerin ausgeruht und gestärkt ins Freie schritt, murmelte sie unter dem Tor lange unverständliche Sätze, die ihre Gastgeber nicht verstanden. „Was hast du gesagt?“, fragte barsch und misstrauisch zugleich der Mann. Die böhmische Zigeunerin reagierte darauf freundlich mit den Worten: „Seid ohne Furcht und Sorge, ihr habt mich gastfreundlich aufgenommen. Zum Dank dafür habe ich in meiner Heimatsprache unseren gemeinsamen Herrgott der Nächstenliebe angerufen und gebeten, euch und die anderen Bewohner von Neusalza vor dem Feuergeist zu beschützen. Seid trotzdem auf der Hut, denn der Feuergeist ist unberechenbar“. Kaum hatte sie das gesagt, war die alte Frau im Morgendunst verschwunden. An anderer Stelle heißt es dazu: „Aber auch sonst hat Gott immer seine Hand über das feuergefährdete Städtchen gehalten, wenn es auch darin bei aller stets angewandten Vorsicht seiner Bewohner zu wiederholtem Male Feuerspuk gegeben hat, so vermochte doch immer rasche Hilfe die Gefahr zu beseitigen, so dass man sich fest in dem Glauben wiegte, es werde in Neusalza nimmer zu einem Brande kommen. Ja, alte Leute wollten wissen, eine Zigeunerin, die freundliche Aufnahme gefunden hatte, habe die Stadt gegen Brandschaden gefeit. Als im Mai des Jahres 1847 ein Haus hinter dem Pfarrgarten an der Schluckenauer Straße abbrannte, bekam dieser Glaube einen argen Riss. Nachdem neun Jahre später, am frühen Morgen des 13. August 1856 ein Brand an der Westseite des Obermarktes entstand und sechs Häuser mit ihren Hintergebäuden gänzlich, andere teilweise vernichtete, ist jene Sage vollends verstummt“.


Der Niedermarkt im Mai 2010


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